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Musik 15.09.2020

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Musik von A bis Z: X wie anonym

Gregorianischer Gesang

Die erste geschriebene Musik, die wir erhalten haben, sind sicherlich die Plainsong-Sammlungen. In den frühen Tagen des Christentums hatte die Psalmodie ihren Ursprung im Judentum. Dieses Gesänge wurde von den Aposteln und Jüngern exportiert, die «gingen und alle Völker zu Jüngern machten». Diese Gesänge haben ihre Wurzeln also in einem Land, in dem es eine andere Tradition gab, sie wurden irgendwie an die lokale Kultur angepasst. All dies geschah durch mündliche Überlieferung. Als dieses Repertoire im Laufe der Jahrhunderte wuchs, wurde es für die Mönche unmöglich, es auswendig zu lernen. Von da an (aber das geschah nicht an einem Tag!) fanden sie Wege, die Musik mit Zeichen zu schreiben, die es ihnen erlaubten, zu wissen, wo die Stimme hoch, runter, schneller, langsamer usw. gehen musste. Diese Kopisten waren nicht die Autoren der Lieder, so dass dieses gregorianische Repertoire anonym blieb.

Mittelalter

Im frühen Mittelalter zogen  Troubadoure, Trouvères und andere Minnesänger als reisende Musiker von Stadt zu Stadt. Einige von ihnen sind berühmt geblieben und ihrer Kompositionen werden heute noch von spezialisierten Musiker*innen gesungen. Conon de Béthune, Adam de la Halle, Thibaut de Champagne, für die Trouvères, Richard Löwenherz, Friedrich II. von Sizilien, Beatriz de Dia, Dante Alighieri für die Troubadoure und Troubadourinnen komponierten Lieder, die noch heute in Fachschulen wie der Schola Cantorum Basiliensis oder dem Centre de Musique Ancienne de Genève studiert werden.

Andere werden auch noch gesungen und gespielt, aber der Autor ist unbekannt. Die Carmina Burana sind ein berühmtes Beispiel. Diese sehr umfangreiche Sammlung von Gedichten und Liedern umfasst parodistische Messen (sehr lustig und respektlos), politisch engagierte Lieder, feministische Stücke, philosophische Stücke, Trinklieder, andere, die die Jahreszeiten, das Lebensalter oder Freud und Leid des Lebens besingen. Im 20. Jahrhundert verwendete Carl Orff auch einige dieser Texte für seine berühmteste Komposition. Aber man weiss wenig über die Autoren, ausser dass sie umherziehende Studenten oder aus dem Priesteramt verstossene Kleriker waren. Obwohl diese Stücke unterschiedlichen Ursprungs sind (die Hauptsprache ist Latein, aber es gibt auch Stücke auf Deutsch, Franco-Provençal und Französisch), wurde das Manuskript, in dem diese Gedichte und Lieder gesammelt wurden, 1803 in der Abtei Benediktbeuern (Deutschland) gefunden. Ein Beispiel:

https://www.youtube.com/watch?v=TL1xSxFfh_I

 

Barock, Klassik und Romantik

Ist der Komponist eines Werkes aus diesen Epochen nicht bekannt ist, liegt das meist daran, dass das Titelblatt verloren gegangen ist oder dass es mehrere Kopien gab und das Original nicht gefunden wurde. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Musikwissenschaftler*innen entdecken, dass ein Werk, das lange Zeit anonym geblieben ist, in Wirklichkeit ein Werk eines bekannten Komponisten ist. In den Jahren 2006, 2009 und 2012 wurden zum Beispiel drei Klavierauszüge von Mozart entdeckt. Wichtige Partituren von Barockkomponisten, die nur als Manuskript existierten, werden teilweise erst heute veröffentlicht.

Gefälschte Unterschriften und Falschmeldungen

Das Phänomen ist in der Malerei bekannt. Alle gefälschten Courbet, gefälschte antike Wandmalereien, Veruntreuung. Das Gemälde unten könnte ein Botticelli (1445-1510) sein, aber Analysen haben ergeben, dass es in den 1920er Jahren von einem italienischen Fälscher angefertigt wurde. Die angeblich alten Wurmlöcher in der Tafel waren mit einem Bohrer hergestellt worden (sie waren gerade, nicht krumm), und das Kleid der Jungfrau wurde mit Preussischblau bemalt, einem Pigment, das erst im 18. Jahrhundert erfunden wurde!

Albinonis Adagio

In der Musik ist das Phänomen weniger bekannt, aber es existiert. Und das aus verschiedenen Gründen. Nehmen wir als Beispiel das Adagio von Albinoni, das am Anfang dieses Artikels zitiert wird. Diese sehr berühmte Melodie wurde überhaupt nicht von Albinoni im 18. Jahrhundert komponiert, sondern 1945 von Remo Giazotto. Albinoni war nicht nur in Italien, sondern auch im Heiligen Römischen Reich ein sehr geschätzter Komponist geworden. Viele seiner Partituren wurden in der Bibliothek in Dresden aufbewahrt. Nachdem die Stadt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten bombardiert worden war, wurde die Bibliothek in Schutt und Asche gelegt und später auch das Partiturlos. Der von Albinoni faszinierte Musikwissenschaftler Remo Giazotto versuchte, Partituren des Barockkomponisten zu finden. Der Musikwissenschaftler kehrte jedoch  mit leeren Händen nach Hause zurück. Aber Giazotto wollte nicht über sein Scheitern sprechen, er erzählte jedem, dass er ein Fragment einer Geigenpartitur von Albinoni gefunden hatte und schlug vor, es zu restaurieren. Die Melodie bleibt im Kopf, die Harmonien sind schön aufgebaut, aber es gibt keine einzige Note von Albinoni in diesem Stück. Giazotto hat sich immer geweigert, jemandem das berühmte Manuskript zu zeigen, und das aus gutem Grund! Dieses Adagio von Albinoni hat die ganze Welt bereist, alle Dirigenten haben es dirigiert. Aber wie konnten sie so getäuscht werden? Auch heute noch, wenn Sie Albinoni in eine Suchmaschine eingeben, finden Sie Hunderte von Beispielen für diesen Betrug! Auf den ersten Bliuist jedoch offensichtlich, dass es keine Parallele gibt. Zum Beweis: ein echtes Klangbeispiel von Tomaso Albinoni, typisch für den italienischen Barock, mit Strahlkraft und Extravaganz :

https://www.youtube.com/watch?v=1MsyhzKa-b4&t=338s

...und hier ist das Adagio, dessen süsse Romantik völlig anachronistisch ist. Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen!

https://www.youtube.com/watch?v=kJ6ICO07sHE

 

Rossinis Katzen-Duett

Das Duetto buffo di due gatti wird oft als Rezitalzugabe für zwei Sänger*innen und Klavier gesungen. Wenn diese Parodie eines Liebesduetts auch unwiderstehlich ist und wenn Rossini durchaus diese Art von Humor haben könnte, dann ist das Stück in Wirklichkeit eine Zusammenstellung von Passagen aus seiner Oper Otello, die andere Worte als "miaou miaou" hat! Es wird angenommen, dass diese sehr sympathische Bearbeitung dem englischen Komponisten Robert Lucas of Pearsall zu verdanken ist.

 

Caccinis Ave maria

Es ist zu einem Modestück geworden, das viele unserer Chöre an kantonalen Festivals aufführen. Das Ave Maria von Caccini. Caccini? Auch hier, wie bei Albinonis Adagio, hat dieses Stück absolut keine Verbindung zu dem Renaissance-Komponisten (geboren am 8. Oktober 1551 und gestorben am 10. Dezember 1618). Hier ist das Stück, das nichts anderes als eine Täuschung Vavilovs ist, aus dem Jahr 1960.

https://www.youtube.com/watch?v=RO75vJzsuWs

Wie kann man sich täuschen lassen? Schon Caccini hätte ein Ave Maria nicht nur mit den ersten beiden Worten des Gebetes als Text, sondern mit dem gesamten Text komponiert. Zweitens zeichnet sich Caccini durch spritzige Rhythmen, wechselnde Harmonien, virtuose Ornamentik aus, das genaue Gegenteil dieses Ave Maria...

https://www.youtube.com/watch?v=fiYrKedWSjg

 

Pater Bovets Ranz des vaches

Abschliessend nehmen wir uns die schweren Sachen vor. Es ist erstaunlich, welche Leidenschaften dieses Stück wecken kann. Jeder kennt die Geschichte der Schweizer Söldner in Frankreich, die dieses Lied nicht singen durften, weil es ihr Heimweh weckte und sie am Kriegen hinderte. Söldner? Das ist nicht ganz die Zeit von Pater Bovet, oder? Oh, natürlich, Bovets Lyôba ist grossartig. Aber es ist nur ein Arrangement unter anderen. Ein Arrangement, das der Zeit, in der das Stück entstand, sehr nahe kommt. Und doch kommen viele Chorsänger*innen (vor allem aus Freiburg) auf Touren, wenn ein anderer Komponist das Thema auf seine Weise aufgreift. Jost Meier bezahlte den Preis bei der Fête des Vignerons 1999! In der Nähe seiner Heimat beeindruckte Gonzague Monney die «Traditionalisten» mit einer jazzigen Version dieses berühmten Themas, eine Version, die unter anderem am Schweizer Gesangsfest in Meiringen 2015 gesungen wurde. In einer  grossartigen Interpretation unter der Leitung von Martin Zimmermann, die stehende Ovationen erntete. Lassen Sie sich auf diese anonyme Komposition ein, die von Gonzague Monney hervorragend arrangiert wurde – ohne vorgefasste Meinungen!

https://www.youtube.com/watch?v=hzhj527yGe0

Thierry Dagon (Übersetzung: Isabelle Schmied)