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Musik 27.01.2020

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Musik von A bis Z: U wie Ultrachromatismus

Julian Carrillo

Heute schreiben die meisten auf Chormusik spezialisierten Komponisten tonale oder modale Musik. Doch vor mehr als einem Jahrhundert war der mexikanische Geiger Julian Carrillo (1875-1965) der erste, der sich auf Intervalle konzentrierte, die kleiner als Halbtöne waren. Bereits 1895 schrieb er ein Streichquartett mit Vierteltönen. Später ging er noch weiter und interessierte sich für die 16tel-Töne! Es war ihm natürlich unmöglich, so kleine Intervalle auf seiner Geige allein mit den Fingern zu spielen. Mit Hilfe einer auf der Saite bewegten Messerklinge konnte er die gewünschten Töne spielen. Man weiss aber nicht, wie viele Saiten er so durchgeschnitten hat!
Das sehr schöne Gitarrenvorspiel in Vierteltönen zeigt sehr gut das neue Universum, die der Ultrachromatismus bringen kann.

https://www.indiegogo.com/projects/quartertone-guitar-concert-julian-carrillo-by-a-quetzalcoatl-in-fl#/

Ein weiteres Stück von Carrillo, sein «Preludio a Colon», das kürzlich in Basel aufgeführt wurde, verwendet ebenfalls Mikrointervalle für die Stimme. Während diese Noten von den Instrumentalisten das Erlernen spezieller Fingersätze erfordert, erfordert sie vom Sänger ein unglaublich scharfes Gehör.

https://www.youtube.com/watch?v=kvWTYHFHW5M

Zwei weitere Vorläufer

1919 entwickelte der eingebürgerte französische Russe Ivan Wyschnegradsky seine erste Notation in 12er-Tönen. Aber sein Hauptinteresse galt der Bereicherung der Klaviermusik mit Kompositionen in Viertelönen. Es reicht hierfür nicht aus, ein klassisches Klavier umzustimmen, man braucht ein Instrument, das speziell für diesen Zweck entwickelt wurde. Nach mehreren unbefriedigenden Versuchen gelang es der Firma Förster 1927, das ideale Instrument zu bauen.

https://www.youtube.com/watch?v=tDroa5WTU34

Der tschechische Komponist Alois Hába (1893-1973) schrieb grosse Werke mit Viertel-, Quint- und Sechstönen. Er verwendete diese Mikrointervalle in zwei Opern: «Die Mutter» und «Es komme dein Königreich». Weit davon entfernt, konzeptuelle Musik machen zu wollen, wurde Hába von der mährischen Volksmusik inspiriert, in der regelmässig Mikrointervalle als Verzierung verwendet wurden.

https://www.youtube.com/watch?v=RO6dGF2GZf0

Heutzutage


Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Mikrointervalle zu notieren. Die wichtigsten Schreibprogramme (Sibelius, Finale) haben heute eine spezielle Schreibweise für die Notierung der Vierteltöne eingeführt.


Nur wenige Komponisten komponieren ausschliesslich mit Mikrotönen. Viele Musiker aller Stilrichtungen setzen den Ultrachromatismus ausserhalb jeglichen Dogmatismus ein, nicht als Selbstzweck, sondern als eine bestimmte Farbe, die z.B. kurzzeitig verwendet werden kann, bevor man zu einem C-Dur-Akkord zurückkehrt. Hier ein jazziges Beispiel, das als Abschluss dieses kleinen Vortrags dient:

https://www.youtube.com/watch?v=e_nJd4jAUpg

Thierry Dagon